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Bürger*innenbeteiligung und 
repräsentative Demokratie

Eine von vielen denkbaren Antworten auf diese Entwicklung könnte sein, dass Bürger*innen vermehrt die Chance erhalten, sich an Prozessen der Gestaltung ihres Gemeinwesens zu beteiligen und auf diese Weise der Politikverdrossenheit und auch antidemokratischen Tendenzen entgegengewirkt werden kann.

In Zeiten zunehmender Politikverdrossenheit stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, dass Bürger*innen wieder mehr Vertrauen in unsere repräsentative Demokratie gewinnen und bereit sind, sich für diese und in deren Rahmen für das Gemeinwohl zu engagieren. Die richtigen Antworten auf diese Frage zu finden, ist in den gegenwärtig eher beunruhigenden Zeiten insbesondere deswegen von allergrößter Wichtigkeit, weil antidemokratischen Kräfte nicht nur in unserem Land zusehends an Bedeutung gewinnen. Einfache Antworten wird es hier selbstverständlich nicht geben. Zu komplex sind die Ursachen dafür, dass viele Bürger*innen der Politik und den sie gestaltenden Parteien vollständig oder teilweise den Rücken kehren oder aber sich solchen Parteien zuwenden, die unsere repräsentative Demokratie ablehnen.

Eine von vielen denkbaren Antworten auf diese Entwicklung könnte sein, dass Bürger*innen vermehrt die Chance erhalten, sich an Prozessen der Gestaltung ihres Gemeinwesens zu beteiligen und auf diese Weise der Politikverdrossenheit und auch antidemokratischen Tendenzen entgegengewirkt werden kann. Doch worauf könnte sich eine solche Annahme gründen?

Zunächst einmal darauf, dass Menschen in der Regel danach streben, ihr Leben und die Verhältnisse, in denen sie leben, aktiv selbst zu gestalten. Sie wollen Einfluss nehmen, Entscheidungen treffen und so Etwas bewirken. Die Erfahrung, dass dies möglich ist, ist die Grundlage für Selbstwirksamkeit, Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Machen Menschen jedoch die Erfahrung, dass sie selbst nichts zu entscheiden und somit keinen Einfluss auf die Gestaltung ihrer Lebensbedingungen haben, fühlen sie sich weder ernst genommen noch angemessen wertgeschätzt, sondern denen ausgeliefert, die über ihre Köpfe hinweg Entscheidungen treffen.

Bezogen auf die Frage von Beteiligung und Teilhabe von Bürger*innen an der Gestaltung ihres Gemeinwesens bedeutet dies, dass sie nicht nur informiert und um ihre Meinung gefragt werden sollten, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, sondern dass sie die Möglichkeit haben, tatsächlich Einfluss auf die Entwicklung ihres Gemeinwesens zu nehmen, indem sie in einem von der Politik vorgegebenen Rahmen mitentscheiden oder auch selbst Entscheidungen treffen können. Ein Beispiel für eine solche Form der Beteiligung ist der Bürger*innenhaushalt: Für die Vergabe der in einen solchen Haushalt eingestellten Mittel wird Bürger*innen von der Politik die Verantwortung übertragen.

Wäre die Politik bereit, Bürger*innen im Rahmen von Beteiligungsprozessen zuzugestehen, dass sie unter zuvor definierten Bedingungen mitentscheiden oder Entscheidungen treffen können, hätten Bürger*innen also tatsächlich die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, wie hier am Beispiel des Bürger*innenhaushaltes dargestellt, könnte ihr Vertrauen in und ihr Interesse an Politik und politischer Gestaltung wieder gestärkt oder vielleicht auch erstmals geweckt werden. Mit solcherart gestalteten Beteiligungsprozessen tut sich die Politik allerdings immer noch sehr schwer.

So haben beispielsweise im Bezirk Steglitz-Zehlendorf die politisch Verantwortlichen inzwischen zumindest erkannt, dass Bürger*innenbeteiligung verbindlich gestaltet, strukturell verankert, ausreichend finanziert und professionell gestaltet werden muss. Eine entsprechende Entscheidung hat die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) im Mai 22 auf der Grundlage eines von über 1.400 Bürger*innen unterzeichneten Einwohnerantrages getroffen, der genau dies und darüber hinaus gefordert hatte, dass „Beteiligungsprozesse (…) die Partizipationsstufen ‚Information‘, ‚Mitwirkung‘, Mitentscheidung‘ und ‚Entscheidung‘ umfassen (sollen d.V.), soweit nicht rechtliche Bestimmungen dem entgegenstehen“.

Diese vier Partizipationsstufen finden sich fast durchgängig in der einschlägigen Literatur zu Fragen von Bürger*innenbeteiligung. Sie gehören quasi zum Inventar von Beteiligung. In dem hier behandelten Zusammenhang sind insbesondere die beiden Partizipationsstufen ‚Mitentscheidung‘ und ‚Entscheidung‘ aus den oben genannten Gründen bedeutsam. Sie eröffnen Bürger*innen – finden sie im Rahmen von Beteiligungsprozessen angemessene Berücksichtigung – das größtmögliche Maß an tatsächlichem Einfluss auf die Gestaltung ihres Gemeinwesens.

Die in dem Einwohnerantrag enthaltene Forderung nach Anwendung der vier Partizipationsstufen im Rahmen von Beteiligungsprozessen haben die Fraktionen der Zählgemeinschaft – Grüne, SPD und FDP – jedoch aus dem Antrag gestrichen, bevor sie ihn ansonsten im Wesentlichen übernommen und beschlossen haben. Sie haben stattdessen formuliert „Beteiligungsprozesse sollen Partizipationsstufen umfassen, soweit nicht rechtliche Bestimmungen dem entgegenstehen“.

Abgesehen davon, dass dieser Satz nicht zu verstehen ist, zeigt sich hier das Spannungsverhältnis zwischen Bürger*innenbeteiligung und repräsentativer Demokratie: Je mehr Entscheidungsbefugnisse Bürger*innen im Rahmen von Beteiligungsprozessen zugestanden werden sollen, desto größer ist die Sorge in diesem Fall der Bezirksverordneten, dass ihnen Entscheidungsbefugnisse verloren gehen.

Obwohl die Verfasser*innen des Einwohnerantrages gerade wegen dieser voraussehbaren Sorge, den Halbsatz „…soweit nicht rechtliche Bestimmungen dem entgegenstehen“ in den Antrag aufgenommen und damit ausgeschlossen hatten, dass Bürger*innen irgendetwas gegen den Willen der Bezirksverordneten mitentscheiden oder gar entscheiden können, haben sich die Verordneten nicht einmal dazu durchringen können, die Partizipationsstufen auch nur zu nennen. Dies legt die Vermutung nahe, dass sie im Grunde nicht daran interessiert sind, dass Bürger*innen im Rahmen von Beteiligungsprozessen so viel mitentscheiden oder entscheiden können, wie nur eben möglich.

Träfe diese Vermutung zu, hätten die Bezirksverordneten ohne Not die Chance aus der Hand gegeben, Bürger*innen im Sinne von größtmöglicher Beteiligung und Teilhabe wieder vermehrt für die Mitwirkung an der Gestaltung des Gemeinwesens zu gewinnen, für die lokale Politik zu interessieren und damit bestmöglich der Politikverdrossenheit entgegen zu wirken. Letztlich hätten die Verordneten in der irrigen Annahme, möglicherweise auf ihnen zustehende Rechte verzichten zu müssen, der repräsentativen Demokratie einen Bärendienst erwiesen.

Dies gegebenenfalls noch zu korrigieren, wäre jedoch im Rahmen des auf Grund des o.g. BVV-Be-schlusses gerade begonnenen Prozesses der Entwicklung verbindlicher Leitlinien für Bürger*innen-beteiligung in Steglitz-Zehlendorf ohne weiteres möglich.

Im Wissen um das Spannungsverhältnis zwischen repräsentativer Demokratie und Bürger*innenbeteiligung, könnte im Rahmen dieses Prozesses dafür Sorge getragen werden, dass die Chancen, die Teilhabe und Beteiligung für unsere repräsentative Demokratie mit sich bringen, vollumfänglich genutzt werden, und zwar genau so weit, wie dem nicht tatsächlich rechtliche Bestimmungen entgegenstehen.

Auszuloten und dann gegebenenfalls auch auszuhandeln, was das genau bedeutet, wäre sicherlich die vornehmste Aufgabe des Gremiums, das die o.g. Leitlinien erarbeiten wird. Und dabei sollte gelten: Sorgfalt vor Schnelligkeit. Denn es geht um viel: um das Vertrauen in unsere Demokratie.

 

Stephan Voß

mail@voss-berlin.de

 

Stephan Voß ist Gründungsmitglied der 

Initiative Bürger*innenbeteiligung Lichterfelde Ost und der 

Initiative Lebenswerter Kranoldplatz



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