Selbstbestimmung 
– Chance und Aufgabe?

Der Anfrage zu diesem Artikel habe ich kurzerhand aus dem Bauch heraus, ohne viel darüber nachzudenken und vermutlich auch “selbstbestimmt” zugesagt. 


Als wichtiges und lange noch nicht selbstverständliches Thema kann Selbstbestimmung auf verschiedenen Ebenen beleuchtet werden, wobei ich meine Blickwinkel auf die offene Nachbarschaftsarbeit sowie den Prozess der persönlichen Selbstbestimmung legen möchte.


Im Arbeitskontext bedeutet Selbstbestimmung für mich vor allem ein flexibles Agieren sowie Reagieren auf Bedarfe und war für mich nicht zuletzt ein Grund dafür, meinen Fokus auf den Bereich der offenen Nachbarschaftsarbeit zu legen. 


Die offene Nachbarschaftsarbeit als Teil der Stadtteilarbeit fußt im Gutshaus Lichterfelde auf einer warmen Willkommenskultur, verschiedenen bedarfsorientierten Angeboten und zu einem großen Anteil auf ehrenamtlichem Engagement. So werden viele offene Gruppen von ehrenamtlichen Nachbar*innen meist auf Spendenbasis angeboten, welche den Kursinhalt selbstbestimmt planen und bei uns das Angebot vorstellen. Diese Selbstbestimmung spielt in Bezug auf ehrenamtliche Angebote eine besondere Rolle und muss zugleich in Abstimmung mit unseren Bedingungen vor Ort im Nachbarschaftshaus in Einklang gebracht werden. Unsere Besucher*innen können damit das Haus aktiv mitgestalten und werden ermutigt, sich einzubringen, was neben den verschiedensten Ideen natürlich auch Herausforderung und Koordination bedeutet. (So kommt an einem Tag eine Frau mit der Idee, ein offenes, empowerndes Tanzangebot anzubieten und an einem anderen Tag betritt ein Herr mit einem Kuchen das Nachbarschaftscafé und fragt, ob wir diesen bei uns probieren möchten.) Unsere Haltung ist an erster Stelle offen allen neuen Ideen gegenüber und wir probieren zu ermutigen sowie einen Weg der selbstbestimmten Umsetzung in unserem Haus zu ermöglichen. 


Im Kontext von Sozialberatung kommen die Besucher*innen freiwillig und  teilen im Beratungsgespräch, was sie bewegt. Sie werden an erster Stelle als „ExpertIn der persönlichen Lebenssituation“ beraten und bleiben selbstbestimmt in Bezug auf mögliche Hilfeangebote sowie eigene Entscheidungen. So geht es um bedarfsbezogene Begleitung und Unterstützung bei individuellen Herausforderungen, zugleich auch um das Vermeiden von bevormundender und übergriffiger Hilfe, welche „gut gemeint ist“. Eine Balance, die nicht immer leicht zu halten ist und kollegialen Austausch sowie Reflexion in Hinblick auf klientenorientierte Selbstbestimmung bedarf. 


Auch im stadtteilbezogenen „Suppenbus-Projekt“ geht es einmal wöchentlich um ehrenamtliche Unterstützung von bedürftigen Menschen in Form eines Suppenausschanks auf der Schlossstraße in Steglitz. Die Menschen kommen bei Bedarf und oft regelmäßig. Sie sind dankbar für eine warme Suppe. Unser niedrigschwelliges Angebot ist offen und freiwillig, die Selbstbestimmung der Besucher*innen soll im Blick behalten werden. Fragen wie „Was ist der Auftrag und wo endet unser Einsatz?“ und „Bieten wir weiterführende Hilfe an oder geht es hier ebenso um die Akzeptanz sowie das „persönliche Recht auf Verwahrlosung“?“, wie es ein hauptamtlicher Mitarbeiter benennt, sind immer wieder Thema. 


So kann die offene Nachbarschaftsarbeit in Bezug auf ein „selbstbestimmtes Leben“ (vgl. Artikel 2 des Grundgesetzes) förderliche Strukturen wie z.B. freie Räume für interessengeleitete Entfaltung ermöglichen, dies unter Berücksichtigung aller Akteur*innen und Bedingungen vor Ort sowie mit sensiblem Blick in Bezug auf unsere Rolle und die Akzeptanz im bedarfsorientierten Beratungskontext. 


Persönliche Selbstbestimmung im eigenen Mikrokosmos zu erleben, bedarf Mut auf verschiedenen Ebenen und kann vielleicht sogar als persönliche Lebensaufgabe betrachtet werden. Eine „Aufgabe und Chance“, die es in sich hat und verbunden ist mit einem verstärkten Blick auf sich selbst sowie individueller Weiterentwicklung und lässt sich vielleicht mit einer Alpenüberquerung - von der Idee zur schrittweisen Umsetzung vergleichen.


Hierbei geht es darum, Schritt für Schritt für sich in einen Prozess zu kommen und wortwörtlich langsam „für sich loszugehen“. Um eine Ahnung zu bekommen, wo die eigene Reise der Selbstbestimmung hingehen kann, darf zunächst der Fokus auf die Wahrnehmung der persönlichen Bedürfnisse und Wünsche gelegt werden. Diese oft „verdrängten und leisen“ Bedürfnisse wahrzunehmen, sie zu „hören“ ist die erste „Aufgabe“/ Herausforderung auf dem Weg zur Selbstentfaltung. Genau hinzuschauen bzw. in sich hineinzufühlen, braucht Raum, Mut sowie die Offenheit zur eigenen Selbstreflexion und ist zugleich die Grundlage, um in die Klärung der eigenen Ziele und Träume zu kommen. Dieses Sichtbarmachen kann als erster Wegweiser dienen und Energie in Richtung eigene Selbstbestimmung hervorbringen.


Im systemischen Coachingprozess wird zudem methodisch auch das Bewusstsein auf „persönliche bremsende Faktoren“ wie z.B. eigene innere Haltungen oder Überzeugungen gelenkt, um mit diesem Wissen dann in eine bewusste Bewegung für sich kommen zu können. Die Frage „Wer will ich sein?“ kann maßgeblich dazu dienen, sich neu zu finden und für seine Bedürfnisse sowie Ziele „loszugehen“. So wird z.B. aus der „unmöglichen“ Vorstellung und vielen Zweifeln, allein die Alpen zu überqueren, Stück für Stück eigene Realität – jeder Schritt führt mehr in Richtung selbstbestimmtes Leben und Entscheiden.
 
Hierbei geht es auch darum, scheinbar feste und bestehende Grenzen zu überwinden, über persönliche Schatten zu springen und im Mut für das Unbekannte vielleicht ja tatsächlich seine persönliche Erfüllung zu finden, z.B. in Form von unendlichen Weiten auf den Gipfeln der Alpen.


Der Weg von der Selbstwahrnehmung zur Selbstbestimmung und Selbstliebe ist steinig und vermutlich unendlich weit, dennoch führt er unaufhörlich in die eigene Selbstentfaltung.


Schlussendlich kann ich nur dazu ermutigen, auf sich zu schauen und für sich loszugehen, es könnte sich lohnen!


 
Saskia Zimpel
Sozialpädagogin Nachbarschaftsarbeit
Systemischer Coach


Projektmitarbeiterin
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